Tagungsbericht

IGfH-Bundestagung Inobhutnahme –
Aus der Praxis für die Praxis

Erscheint im Forum Erziehungshilfen Heft 5/2019
Von Norbert Struck

 

Vom 19.–20. September 2019 fand in Erkner bei Berlin die 2. Bundestagung Inobhutnahme der IGfH statt, die von der Fachgruppe Inobhutnahme inhaltlich geplant und verantwortet wurde. Schon die Tatsache, dass 260 Menschen teilnahmen und noch etlichen abgesagt werden musste, weil die Kapazitäten der sehr ansprechenden Tagungsstätte Bildungszentrum Erkner einfach nicht mehr hergaben, zeigt wie stark das Interesse an Austausch zwischen den Kolleg*innen in diesem einerseits vielfältigen andererseits aber oft zu Unrecht wenig beachteten Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist.

 

Josef Koch, der Geschäftsführer der IGfH, moderierte – wie gewohnt gespickt mit Zitaten aus der Literatur – durch die Gesamttagung. Eröffnet wurde sie durch ein von Bettina Zötsch (BMFSFJ) verlesenes Grußwort von Frau Bundesministerin Franziska Giffey.

 

Hans-Ullrich Krause begrüßte die Teilnehmer*innen als Vorsitzender der IGfH und Rüdiger Riehm und Andreas Neumann-Witt als Sprecher der IGfH-Fachgruppe Inobhutnahme.

 

Die ganze Tagung war als Arbeitstagung angelegt. 15 Workshops am ersten Tag und 6 Fachforen am zweiten Tag luden zur Diskussion vieler pädagogischer und rechtlicher Aspekte der Inobhutnahme ein. Sie wurden jeweils von zwei Vorträgen eingeleitet.

 

Zu Beginn der Tagung referierte Thomas Trenczek, der die Fachgruppe seit 15 Jahren begleitet, zum Thema »Muss ich, darf ich, kann man« – Frequently Asked Questions und fachliche Standards der Inobhutnahme. Die 12 Fragen waren gemeinsam mit der Fachgruppe erarbeitet worden. Auf jede seiner Antworten, die durch seine einerseits juristische, andererseits sozialwissenschaftliche Kompetenz und seine langjährigen Erfahrungen mit dem Thema ebenso konkret wie lebendig ausfielen, konnte kurz aus dem Plenum nachgeharkt werden.  Details wird man demnächst auch im neuen »Handbuch Inobhutnahme« der IGfH-Schriftenreihe nachlesen können, das auf der Tagung angekündigt wurde. In seinem Vorspann betonte Thomas Trenczek, dass die Inobhutnahme ein höchst anspruchsvolles Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist, in dem es oft keine einfachen Antworten gibt, und in dem die Scheidelinie zwischen »zu früh« und »zu spät« oft sehr dünn ist. Gewiss kann es Fehler im fachlichen Handeln geben, zu denen man dann auch stehen muss, aber die im öffentlichen Diskurs zu oft zu schnell stattfindenden Pauschalierungen von Einzelfällen überschreiten regelmäßig die Grenze des Erträglichen – unterstrich Thomas Trenczek.

 

Die meisten Inobhutnahmen werden in Einrichtungen freier Träger durchgeführt (§ 76 SGB VIII) – dennoch bleibt die Inobhutnahme an sich als hoheitlicher Akt Aufgabe des Jugendamtes, bzw. der bei ihm zuständigen Fachkraft! Daraus ergibt sich auch, dass jedes Jugendamt verpflichtet ist einen 24/7-Bereitschaftsdienst vorzuhalten. Das ist weder auf die Polizei noch auf den freien Träger delegierbar. Die Praxis hinkt dieser zwingenden Anforderung leider immer noch mancherorts hinterher. Immer wieder kam er auf das Thema der fachlichen und rechtlichen Notwendigkeit der Einbeziehung der Eltern in den Prozess der Inobhutnahme zu sprechen.

 

»Kann einem Selbstmelder die Inobhutnahme abgelehnt werden?«  war eine weitere der Fragen. Kann sie nicht! Aber deshalb muss die Jugendhilfeplanung zwingend dafür sorgen, dass es ein hinreichend differenziertes Angebot für Inobhutnahmen gibt. Durch eine einzige Inobhutnahmestelle in der Stadt bzw. dem Landkreis ist die rechtliche Verpflichtung des öffentlichen Trägers nicht erfüllt!

 

Deutlich machte er auch: das Jugendamt hat die Wahrnehmung der elterlichen Sorge nur treuhänderisch wahrzunehmen. Die Eltern bleiben in ihrem Sorgerecht – es sei denn es liegt eine anderes regelnde familiengerichtliche Entscheidung vor. …
Es waren spannende zwei Stunden, in denen der Aufmerksamkeitspegel im Publikum hoch blieb.

 

Einzig kritisch wurde angemerkt, dass die Tagungsleitung sich entschieden hatte, das Thema vorläufige Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nach §§ 42 a ff SGB VIII auszuklammern. Angesichts der Tatsache, dass die als Notmaßnahme getroffenen Regelungen aus der Situation 2015/2016 mit vielen massiven Belastungen der jungen Flüchtlinge verbunden sind, ist es an der Zeit hier zu korrigieren und die Regelungen wieder abzuschaffen oder aber zumindest gründlich zu modifizieren. Es sei befremdlich, dass dieses Thema bisher aus dem Reformprozess SGB VIII weitestgehend ausgegrenzt werde. Hier sei eine fachpolitische Initiative dringend erforderlich.

 

Danach teilten sich die Teilnehmer*innen auf 15 verschiedene Workshops auf. Keine Chance als Tagungsbeobachter hier den Überblick zu behalten. Die Workshops wurden – nicht nur, aber ganz wesentlich – von den Mitgliedern der Fachgruppe gestaltet. Es ging in diesen Workshops u. a. um das Clearing in der Inobhutnahme, ums Krisenmanagement, die Verweildauer, um Bereitschaftsfamilien, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die Arbeit mit Mädchen mit Migrationshintergrund und Gewalterfahrungen und Inklusion in der Inobhutnahme. Jeder Workshop stellte eine Wandtapete mit den zentralen Ergebnissen auf, durch den sich die Teilnehmer*innen grobe Eindrücke verschaffen konnten.

 

Der zweite Tag begann mit einem Vortrag von Klaus Wolf zum Thema »Inobhutnahme als Organisation und sozialpädagogische Gestaltung von Übergängen« – als »geistiges Band« der vielfältigen Workshop-Themen – wie Josef Koch mit Rückbezug auf Goethe den Beitrag ankündigte. Klaus Wolf arbeitete die Komplexität »kritischer Lebensereignisse« heraus und die genuin sozialpädagogische Aufgabe des Perspektivwechsels, des Verstehens der Perspektiven der involvierten Kinder und Eltern,  als Voraussetzung für gelingende Kommunikation und den Abbau von strukturellen Machasymmetrien, für die die Fachkräfte die Hauptverantwortung tragen. Drei Zitate aus der Elternperspektive machten eindrücklich deutlich, welch nachhaltige Verstörungen die Inobhutnahme eines Kindes auslösen kann und warum es für sozialpädagogisches Handeln essentiell ist, sich hierauf verstehend und unterstützend statt ausgrenzend und sanktionierend zu beziehen. Deutlich wandte er sich gegen einen »paternalistischen Kinderschutz«: Kind raus – und Funkstille im Hinblick auf die Eltern. Die Erklärungen, die Kinder sich in dieser »Funkstille« über sich, die Ursachen ihrer Situation und die Situation ihrer Eltern ausdenken, legen den brutalen Kern dieser »hard cut«-Ideologie überdeutlich offen.

 

Sechs Fachforen schlossen sich an, mit folgenden Themen
  • Übergänge zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe
  • »Unbändige Grenzgänger«
  • Traumaerstberatung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
  • Organisationsvielfalt in der Inobhutnahme
  • Kinder von 0–6 Jahren in Inobhutnahme-Einrichtungen
  • Elternarbeit in Inobhutnahme-Einrichtungen
Bei der nachmittags abschließenden Podiumsdiskussion, die Hans Ullrich Krause moderierte, sollten die sechs Podiumsteilnehmer*innen jeweils Kernpunkte von wahrgenommenen Problemen während der Tagung kurz darstellen und anschließend Lösungsoptionen für die von ihnen benannten Probleme skizzieren. Die Stichworte wurden:
  • Auftragsklärung
  • »herausfordernde Jugendliche«
  • Kooperation
  • Rollenklarheit
  • Verstopfte Kreativität hinter Routinen
  • Elternbeteiligung
Hans-Ullrich Krause sammelte aus den Teilnehmer*innen dann noch einige »Fundstücke« ihrer Tagungserfahrung auf. Aber es wurde immer deutlicher: die Tagung war gut, ertragreich, fordernd – aber so langsam ging allen auch die Luft aus.

Mehr Austauschmöglichkeiten in Zukunft – zumindest in kleineren Rahmen war noch ein dringlicher Wunsch. Und schließlich noch einmal: Kümmert Euch um die Abschaffung oder mindestens Zivilisierung des Bürokratiemonsters „vorläufige Inobhutnahme“.

Norbert Struck,
norbert-struck@t-online.de